Frohes Fest!
"114 bitte 7, hundertvierzehn bitte!" Ich konnte mir ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen. Niemand bemerkte es. Jeder war auf die Fahrt mit der Rolltreppe fixiert, Taschenbehangen.
Plötzlich ein kleiner Ruck. Die Treppe hielt. Stromausfall im ganzen Kaufhaus. Ich spürte, wie sich rückwärts eine Rolle Geschenkpapier zwischen meine Füße schob und jemand "tschuldige, DU" murmelte. Oh Gott, ein Sozialpädagoge.
Na, suuuper, dachte ich. Heiliger Abend, 12 Uhr mittags. High Noon in den Kaufrauschtempeln. Ich war nicht der einzige, ohne Weihnachtsgeschenk. Da es stockfinster war, von der Notbeleuchtung abgesehen, schallte es wieder aus den Lautsprechern. Diesmal wurden keine Nummern gesucht, die enigermäßig verschlüsselt waren, wobei ich wusste, dass die "17" Toilette bedeutete. "Bin mal 17", hatte ich zu einem weit erfreulicheren Anlass gehört. Nein es hieß: "liebe Kundinnen und Kunden, wir haben ein kleines technisches Problem und bitten Sie, den Leuchtspuren der Auslegeware zu den nächstgelegenen Treppenhäusern zu folgen. Bitte bewahren Sie Ruhe!" Beim Wort "Bitte" ging das Licht wieder an, die Rolltreppe setzte sich in Bewegung und übergangslos ertönte erneut eine nicht mehr so freundliche, sondern etwas angenervte Frauenstimme "114 bitte SIEBEN!"
Wer war sie oder er also, die "114"? Keine Ahnung, irgendjemand, der gerade Mittagspause machte? Egal, dachte ich mir. Nicht egal war mir, dass die Rolltreppen nicht mit leuchtspurenbehafteter Auslegeware ausgestattet waren. Ein eklatanter Verstoß gegen fundamentale Sicherheitsbestimmungen? Ich verwarf den Gedanken, dem Kaufrausch-Manager des Kaufhauses mein Bedauern darüber zum Ausdruck zu bringen, um im Anschluss zu fragen: "wie bitte soll dies technisch funktionieren?!"
Meines Wissens schließt dieser "gefährliche" Laden um 12 Uhr 30. Nur noch wenige Minuten. Vorbei an der Fleischtheke: "Putenschnitzel" im Angebot. "Schnutenpitzel" sagt ein Kollege immer, der es zum Tränenlachen beherrscht, derartige Wortverdrehungen zu erfinden, und zwar Jahre bevor eine drittklassige Comedy-Truppe des Kommerzfernsehens dies für "sich" entdeckte und bis zum Erbrechen ausschlachtete...
Nur noch wenige Meter: die Haushaltswaren-Abteilung. Der einzige Bereich, der noch Waren im Ãœberfluss feilbot, wo also noch ein wenig Auswahl bestand.
Ich steuerte ein Regal mit Messerblöcken an, griff zu und gab ungewollt einem ebenfalls danach Greifenden die Hand. "Mensch Kaya", fuhr es aus mir heraus. Ein alter Schulfreund. "Bitte!" sagte er, nach dem obligaten "give me five". "Nimm du ihn, wir haben scheinbar das gleiche Problem", sagte er lächelnd. "Es sind ja noch mehr da."
Wir einigten uns, auf ein Glas Bier irgendwo einzukehren, sobald die Einkäufe beendet waren. Bloß raus hier! Auf dem Weg zum Ausgang hielten wir an einem prachtvoll geschmückten Stand inne, um dem Treiben des engagierten Weihnachtsmannes (vermutlich ein Student der Informatik im 71. Semester) beizuwohnen.
Ein kleines Mädchen stand kerzengerade und mit ehrfurchtsvollem Blick, erwartungsvoll vor dem Weihnachtsmann. Es fragte zum allgemeinen, aber zurückhaltenden Vergnügen der Anwesenden "du, lieber Weihnachtsmann, kannst du meine Lisa heile machen?" Lisa war eine sehr zarte und sehr alte Stoffpuppe, der beim Spiel wohl versehentlich der linke Arm abgerissen wurde. Der Weihnachtsmann blickte auf seine für Weihnachtsmänner untypische Swatch-Uhr, schaute sich flüchtig die beiden Puppenteile an, gab sie dem Mädchen zurück und sagte so unpassend, wie nur eben möglich: "Nein, aber deine Mutti kann das bestimmt!" - dann schob er die Kleine hastig beiseite, um seinen "wohlverdienten" Feierabend in Angriff zu nehmen.
Die meisten der Anwesenden folgten dem Beispiel des bezahlten Bescherers, suchten und fanden schnell das Weite. Zurück blieben der Weihnachtsmann, Kaya und ich.
Die Mutter des kleinen Mädchens, das zu Recht ein wenig enttäuscht vom Kundenkontaktverhalten neuzeitlicher Himmels-Angestellter war, brachte Lisa & Co tröstend zur Rolltreppe.
Kaya sah mich an, ich sah ihn an. Wir sahen den Weihnachtsmann an. Und zwar genau. Kaya ergriff den Rauschebart, ich die rote Zipfelmütze. Sehr langsam und genussvoll zog er den Bart so lange, bis die Gummibänder rissen, während ich, ebenso genussvoll, die Mütze tief in das verblüffte Gesicht unseres Studiosos zog.
"Frohes Fest!" riefen wir, wie aus einer Kehle.
Um kurz nach 21 Uhr verließen wir beide, herrlich über alte Zeiten lästernd, "weisst du noch auf Klassenreise in Berlin?" die Kneipe unserer Wahl. Aus einem Bierchen wurden mehrere. Der Abend war heilig, aber total im Eimer. Jedenfalls familiär gesehen.
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© 2002 Michael Kurz, Hamburg; früher www.arts-only.de [offline]
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